Von Rainer Busch
02. Jan 2021
Das Ende der „Mainz“ beschrieb der britische Leutnant Oswald Frewin so: „Das Letzte, was ich von ihr sah, war ein völliges Wrack, das gesamte Mittschiff ein rauchendes Inferno. Auf der Back und achtern spien je ein Geschütz noch Gift und Galle wie eine von Wunden verrückt gewordene Wildkatze.“
Am 28. August 1914 gegen 14.10 Uhr sank der 130,50 Meter lange und 14 Meter breite Kreuzer nach wiederholten Artillerie- und Torpedotreffern. Das Schiff war eines der ersten Opfer der „Schlacht bei Helgoland“, dem ersten größeren Seegefecht des Ersten Weltkrieges. Der Großteil der Besatzung von 437 Mann wurde von den Briten gerettet. Mit auf den Meeresgrund versanken Torpedos, Granaten verschiedener Größe, Gewehrmunition.
„Manches ist auf dem Meeresboden komplett korrodiert, anderes vollständig intakt. Es ist alles da, die gesamte Bandbreite."
Seit 106 Jahren ruht die „Mainz“ in einer Tiefe von etwa 30 Metern gut 40 Seemeilen westlich von Helgoland. Ihre Altlasten könnten noch immer gefährlich sein. „Der Gefährdungsgrad hängt nicht vom Alter der Munition ab“, sagt Matthias Brenner, Meeresbiologe am Alfred-Wegner-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Manches ist auf dem Meeresboden komplett korrodiert, anderes vollständig intakt. Es ist alles da, die gesamte Bandbreite.“
Und es ist viel da, sehr viel sogar. Auf 1,3 bis 1,6 Millionen Tonnen wird die Munitionsmenge in der deutschen Nord- und Ostsee geschätzt: Überreste von gesunkenen Schiffen, von Flugzeugwracks oder Seeminen, vor allem aber auch Granaten, Bomben und Patronen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg einfach im Meer entsorgt worden sind. Ein Güterzug mit diesen Munitionsresten beladen, würde von Kiel bis Rom reichen.
„,North Sea Wrecks' ist ein absolutes Pionierprojekt“, erzählt Dr. Sven Bergmann, Kulturanthropologe am Deutschen Schifffahrtsmuseum (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte und wissenschaftlicher Koordinator des Vorhabens. „Es ist das erste Mal, dass die Auswirkungen der Kriegshinterlassenschaft auf die Flora und Fauna der Nordsee untersucht werden.“ Als Giftstoffquelle gefährden sie womöglich nicht nur Mensch und Umwelt. Die explosiven Objekte stellen auch ein Risiko dar für die zunehmend kommerzielle Nutzung der Nordsee, etwa durch Offshore-Windpark-Anlagen, Aquakulturen und die private wie kommerzielle Seefahrt. „Niemand weiß genau, wo was liegt“, sagt Bergmann.
Mit vier Millionen Euro kofinanziert die Europäische Union das Gemeinschaftsprojekt, an dem auch die Nordseeanrainer Belgien, Niederlande, Dänemark und Norwegen mitwirken. Neun Partner sind daran beteiligt, darunter gleich drei Mitglieder der U Bremen Research Alliance: das DSM, das die Projektleitung innehat, das AWI und die Universität Bremen in Person des Unterwasserarchäologen Dr. Philipp Grassel. Was die Altlasten auf dem Meeresgrund anrichten könnten, interessierte Jahrzehnte nicht. „Es galt das Motto: Aus dem Auge aus dem Sinn. Man hat die Munitionsreste gar nicht als Problem erkannt“, erläutert Grassel. Das änderte sich erst, als Ergebnisse von Untersuchungen in der Ostsee vorlagen, die auf Drängen von Ländern wie Polen und Litauen durchgeführt worden waren. Dabei wurden erhebliche Belastungen durch giftige Substanzen festgestellt. „Durch die gesamte westliche Ostsee wabert ein TNT-Süppchen“, schildert Matthias Brenner das Problem. Fische in diesen Verklappungsgebieten haben eine deutlich höhere Tumorrate, Ablagerungen in den Muscheln sind toxikologisch bedenklich. „Wir vermuten, dass es in der Nordsee ähnlich ist“, fürchtet Brenner.
„Durch die gesamte westliche Ostsee wabert ein TNT-Süppchen. Wir vermuten, dass es in der Nordsee ähnlich ist."
Sicher ist das nicht. Der Tidenhub, die Strömung und damit der Wasseraustausch sind in der Nordsee sehr viel höher beziehungsweise stärker als im Binnenmeer Ostsee. Das gilt auch für die Sedimentbewegungen am Meeresboden, die Wracks verbergen und sie erst Jahre später wieder freigeben können. „Wir untersuchen, ob man etwas nachweisen kann. Ist das nicht der Fall, dann ist das auch ein Ergebnis“, meint Bergmann.
Mindestens 120 militärische Wracks liegen allein in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone. Ihre Positionen sind weitgehend bekannt, nicht aber, was genau sie bei ihrem Untergang an Bord gehabt haben. Dies zu klären, ist eine der ersten Aufgaben des Forschungsprojekts. Dabei hilft das Militärarchiv in Freiburg, in dem Log- und Kriegstagebücher und weitere Unterlagen aufbewahrt werden. In ihnen ist oft, aber nicht immer verzeichnet, wie viel Munition die einzelnen Schiffe an Bord gehabt und wie viel sie während der Kämpfe verschossen haben. „Am Ende können wir den Bestand an Restmunition abschätzen“, sagt Grassel.
Weil nicht jedes einzelne versunkene Schiff untersucht werden kann, haben die Wissenschaftler anhand dieser Daten nordseeweit Beispielwracks verschiedenster Typen und aus verschiedenen Zeiten identifiziert, darunter U-Boote, Zerstörer, Vorpostenboote und Sperrbrecher. Letztere waren im Zweiten Weltkrieg häufig durch die Kriegsmarine akquirierte Fischereifahrzeuge, die für den Kampfeinsatz mit Geschützen ausgerüstet wurden.
„Diese Wracks beproben wir dann“, erläutert Grassel 11 die Vorgehensweise. Im Falle der „Mainz“ geschieht dies mithilfe des Forschungsschiffes „Heincke“, das zur AWI-Flotte gehört. Fünf Tage halten sich die Wissenschaftler aus der U Bremen Research Alliance bei dem Wrack auf. Zunächst wird der Boden gescannt, um die genaue Lage der Überreste zu bestimmen. Dann nähern sich Roboter der „Mainz“, machen Filmaufnahmen, die den Tauchern als Grundlage für ihre Arbeit dienen. Diese nehmen dann Sediment-, Wasser- und Kratzproben von den Organismen auf der Hülle des Wracks und den Munitionskörpern. Fische, Seesterne und Algen werden ebenfalls untersucht. Miesmuscheln werden ausgesetzt und in einer zweiten Expedition wieder eingesammelt, um zu überprüfen, ob das Muschelfleisch inzwischen TNT oder Abbauprodukte des Sprengstoffs enthält und wie die Tiere auf den Kontakt mit den Giften reagieren.
Für jedes einzelne Wrack erstellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Risikoanalyse. Zahlreiche Disziplinen sind an dem internationalen Projekt beteiligt, darunter Toxikologen, Geologen, Datenbankspezialisten, Modellierer, Historiker – und auch Juristen. Denn noch sind die Verantwortlichkeiten nicht eindeutig geklärt, sollte etwa von einem deutschen Wrack in niederländischen Gewässern eine Gefahr ausgehen.
Die Forschungsergebnisse werden nicht in der Schublade verschwinden. Zum einen gehen sie ein in eine Software mit Standorten von Munitionsaltlasten für die Nord- und Ostsee, die das Kieler Unternehmen EGEOS erstellt. Sie dient Behörden und Wirtschaft zur Risikoeinschätzung. Und zum anderen ist da noch die Wanderausstellung, die unter Verantwortung des DSM entsteht. Sie wird die Geschichten erzählen vom Untergang der „Mainz“ und anderer Schiffe, vom Schicksal der Besatzungen und von ihrer Hinterlassenschaft.
„Sonst bewegt man sich in den Grenzen seiner Fachwelt. Sie mit der Ausstellung zu überwinden, finde ich cool."
In mehreren europäischen Städten wird sie zu sehen sein und später in die Dauerausstellung des DSM in Bremerhaven integriert werden. Dass eine breite Öffentlichkeit ihre Arbeit zu sehen bekommt und sie mit ihrer Hilfe für das Thema sensibilisieren können, ist für die Forschenden ein zusätzlicher Anreiz. „Sonst bewegt man sich in den Grenzen seiner Fachwelt“, sagt Matthias Brenner. „Sie mit der Ausstellung zu überwinden, finde ich cool.“